Von der Puppenstube zum Hotspot

Theodor Fontanes 200. Geburtstag erinnert an die rasanten Veränderungen der Welt im 19. Jahrhundert, die erstaunliche Parallelen zur heutigen Zeit aufweisen.

Keine Frage, der Mann ist in die Jahre gekommen – um genau zu sein: Es sind bald 200. Der Verehrung wird das keinen Abbruch tun, wenn Ende März das Fontane-Jahr in Berlin und Brandenburg richtig beginnt, der alte Theodor landauf, landab gefeiert wird. Aber ist das, was damals erlebt, gedacht und geschrieben wurde, in heutiger Zeit noch irgendwie relevant? Oder unterscheiden sich die Erfahrungen der Menschen des 21. Jahrhunderts nicht zwangsläufig so fundamental von denen der Altvorderen, dass zumindest der Zugang zu Theodor Fontane kein leichter ist?

Der Zweifel schwingt ja selbst bei wohlmeinenden Zeitgenossen Fontanes schon mit. Alfred Kerr, damals aufsteigender Großfeuilletonist, der als junger Mann den späten Fontane noch erlebt hat, lobte den Alten als modern im Denken, allerdings schwebe „ein Hauch der guten alten Zeit über ihm“. Kerr schrieb das 1895.

Die Sehnsucht nach Entschleunigung

Sieht man genauer hin, gibt es erstaunliche Parallelen zur Gegenwart. Fontane selbst erwies sich als anpassungsfähiger und geschäftstüchtiger Autor, der Bedürfnisse seiner Leser geschickt zu bedienen wusste, die heute eine Wiedergeburt erleben. Entschleunigung oder die Sehnsucht nach „der guten alten Zeit“ sind mitnichten exklusive Phänomene von heute.

Deutschland befand sich zu jener Zeit in der Phase der Hochindustrialisierung, die Welt veränderte sich in einem Tempo, das in der Geschichte bis dahin beispiellos war. Die Auswirkungen sind durchaus mit der heute in alle Lebensbereiche einziehenden Digitalisierung vergleichbar.

1895 wurde das erste Röntgenbild erstellt, Berlins erste U-Bahn gebaut. Die ersten kurzen Filme wurden dem Publikum präsentiert, alle Kontinente waren mittlerweile per Telegrafenkabel verbunden, das erste World Wide Web damit geknüpft. Und der erste Flieger hatte sich auch schon in die Luft erhoben, um im darauffolgenden Jahr tödlich abzustürzen.

Abends wurde Berlin verriegelt

Was für ein Unterschied zu Fontanes Geburtsjahr 1819, als gerade mal zwei Dutzend Postkutschenlinien Berlin mit der Welt verbanden, das Brandenburger Tor wie alle anderen Berliner Tore abends mit Gittern verriegelt wurde. Nachts ging ein Laternenwächter mit der Ölkanne durch die stinkenden Straßen, es gab weder eine Kanalisation noch befestigte Bürgersteige.

Seine Karriere begann Theodor Fontane als Apotheker, um dann auf Journalist umzusatteln. Die längste Zeit war er Freiberufler, als angestellter Redakteur arbeitete er nur zehn Jahre, bei der reaktionären „Kreuzzeitung“, eine Tätigkeit, die er in seinen autobiografischen Schriften gern kleinredete. Er schrieb, um Geld zu verdienen, die Sorge, es könnte nicht reichen, begleitete ihn lang.

Literarisch reüssierte er erstmals in der Zeitschrift „Die Eisenbahn“. Hinter diesem Titel verbarg sich kein Technik-Magazin für Schienen-Nerds, sondern eine literarische Zeitschrift. Die Eisenbahn war als Fortschrittstreiber schlechthin ein Synonym für die Zukunft, im 21. Jahrhundert vielleicht vergleichbar mit dem Internet.

Das Tempo verdreifacht sich

Die ersten echten Eisenbahnen erreichten etwa das Dreifache des Postkutschentempos, was heute nicht viel sein mag, damals einen Quantensprung darstellte. Heinrich Heine schrieb anlässlich der Eröffnung der Bahnlinie Paris-Rouen 1843: „Die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden.“ Die Vernichtung des Raumes zwischen zwei Zielen wurde gängiger Topos in der Diskussion der Intellektuellen Europas jener Zeit. Thesen, die für Flugreisende heute Alltagserfahrung sind, sie kriegen tatsächlich zwischen Start und Landung vom Raum dazwischen gar nichts mehr mit.

1862 erschien mit „Die Grafschaft Ruppin“ der erste Band von Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Vier weitere sollten in den nächsten 20 Jahren folgen. Aus seiner Zeit als London-Korrespondent, vier Jahre hatte er an der Themse gelebt, waren zwei Bücher hervorgegangen. Doch erst mit den Wanderungen begann er richtig Geld zu verdienen. Und mögen seine späteren Romane ihm auch literarische Anerkennung gebracht haben, beim breiten Publikum ist er bis heute der Wanderer geblieben.

Der Wanderer wandert nicht

Warum das so war? Bei seinen Zeitgenossen hatte er ganz offensichtlich einen Nerv getroffen. Das war kein Zufall, sondern planvolle Überlegung. Der Potsdamer Kulturhistoriker Iwan-Michelangelo D'Aprile, der rechtzeitig zum Fontanejahr die spannendste Biografie unter dem Titel „Fontane - Ein Jahrhundert in Bewegung“ vorgelegt hat, nennt das Wanderungs-Projekt eine Art Joint Venture zwischen Fontane und dem Berliner Verleger Wilhelm Ludwig Hertz.

Wie Fontane selbst es bewirbt, zeigt seinen Sinn für modernes Marketing: „Schloß-, Park- und Landschaftsbeschreibung, Historisches, Anekdotisches, Familienkram und Spukgeschichte. Mehr kann man am Ende nicht verlangen.“ Er arbeitete gründlich und hocheffizient, erwanderte aber keineswegs alles selbst. Der „Wanderer“ scheint selten mehr als fünf Kilometer gelaufen zu sein. Er bevorzugte Bahn, Kutsche und Dampfer. Wo er nicht hinkam, ließ er andere recherchieren.

Vor allem Pfarrer und Lehrer lieferten ihm den Stoff, den er brauchte, gern bediente er sich der Hilfe Dritter. So instruierte er seine Schwester Elise: „In Köpernitz selbst guckst du dir das Terrain scharf an: Die Terrainbeschaffenheit, Wald, Wasser, das Dorf, vor allem die Lage des herrschaftlichen Hauses.“ Mitunter traf ihn der Vorwurf, er habe abgeschrieben.

Was aber machte seinen Erfolg aus? D'Aprile nennt in seinem Buch die Hinwendung zur Heimatkunde in den 1860er und 70er Jahren eine Reaktion auf Globalisierungserfahrungen und Nationalstaatsgründungen. Das Deutsche Reich ist noch im Werden, die begleitenden Kriege etwa gegen Dänemark und gegen Frankreich verfolgte Fontane als Autor.

Heute weiß die Europäische Union nicht, in welche Richtung sie sich entwickeln will, der Nationalismus erlebt eine Wiederauferstehung, genauso wie der Heimatbegriff. Zeitschriften wie „Landlust“, eine der erfolgreichsten Magazinneugründungen der vergangenen Jahre, oder Geschäfte wie Manufactum bedienen mit ihren Rückgriffen auf ein tatsächliches oder mitunter imaginäres Früher eine weiter steigende Nachfrage.

Die Zeit nimmt Fahrt auf

Das sich beschleunigende Tempo zu Fontanes Lebzeiten lässt sich am besten an den Uhren der Kirchtürme verdeutlichen, die noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts den Takt vorgaben. Die gingen in jedem Dorf, in jeder Stadt anders, entsprechend der geographischen Lage. Pro Längengrad differiert die Zeit um vier Minuten, in Norddeutschland entspricht das in West-Ost-Richtung 65 Kilometern.

Im Postkutschenzeitalter spielte es noch keine Rolle, ob man zehn Minuten früher oder später ankam. Für die Erstellung eines Eisenbahnfahrplans sind zehn Minuten eine Menge. Weshalb in Europa und den USA nach und nach die Eisenbahnzeit eingeführt wurde und man sich 1884 auf weltweit gültige Zeitzonen einigte. Kleine Uhren, zu Beginn des Jahrhunderts noch Privileg gehobener Kreise, wurden Dank industrieller Massenproduktion zum Alltagsgegenstand. Dass die Zeit verrinnt war nun einer Erfahrung für jedermann und plötzlich musste man sich sputen.

Die Messbarkeit der Zeit trug zu einer Verstetigung und Quantifizierbarkeit von Arbeitsprozessen bei. Sie wurde gleichzeitig zu einem umkämpften Gut: Die Verkürzung der Arbeitszeit gehört zu den ältesten Forderungen der entstehenden Arbeiterbewegung. Keine Zeit zu haben ist die Geburtsstunde des Stresses. Heute gipfelt das damals entstehende Zeitmanagement in permanenter Verfügbarkeit, Verlangsamung wird als Entlastung empfunden.

Mark Twain und das Berliner Tempo

Es ist eine Erfahrung, die die Menschen im Verlauf des 19. Jahrhunderts erstmals machten. Kommst du heute nicht, kommst du morgen, die alte Regel galt nicht mehr, die Welt wurde ein wenig ungemütlicher, die gute alte Zeit hingegen mochte betulich gewesen sein, versprach hingegen die Ruhe, die nun verloren ging.

Es war Mark Twain, der diese Veränderung Deutschlands zu Fontanes Lebzeiten festhielt. Er hatte das Land 1867 erstmals besucht, in seinem Reisebericht hat es den Charme einer Puppenstube. 1891 kommt er wieder und lebt für ein halbes Jahr in Berlin, dem neuen Hotspot. Die Bevölkerungszahl der Stadt hat sich inzwischen auf anderthalb Millionen nahezu verdreifacht und wächst weiter. In einem Essay schreibt Twain, Berlin sei das Chicago Europas, nur noch moderner. Und das Tempo, in dem sich die Stadt verändert habe, sei atemberaubend: „Die Masse ihrer Bauten sieht aus, als wäre sie letzte Woche errichtet worden.“

Ein Kanalisationsfachmann plant die Stadt

Berlins Mietwohnungsmarkt war auch damals außer Rand und Band. Die in die Stadt strömenden Massen fanden in Mietskasernen ein düsteres Quartier. Für die Stadtplanung war nicht mehr wie bis 1861 der Gartenkünstler Peter Joseph Lenné zuständig, der sich von ästhetischen Kriterien leiten ließ, sondern sein Nachfolger James Hobrecht, ein Kanalisationsfachmann.

Fontane, selbst Großstädter, schrieb für ein städtisches Publikum. Und das begeisterte sich zunehmend für Wanderungen in eine Provinz, in der die Welt noch so zu sein schien, wie sie früher war. Es folgte ihm gern zu Plätzen wie „Schloss Still im Land“, in Paretz, wo er die liebliche Szenerie für sie beschreibt: „Selbst das Pappellaub, das immer plaudert, ist still.“

Balsam für den gehetzten Städter

Dabei blendet Fontane die Realität seiner Gegenwart keineswegs aus, etwa wenn er im gleichen Band „Havelland“ auf dem Weg nach Tegel die Oranienburger Vorstadt durchquert, Berlins nördlichen Industriegürtel. Dort „gellt der Pfiff der Lokomotive und über den Schloten und Schornsteinen weht die bekannte schwarze Fahne“.

Fontanes Geschichten von den Bredows und den Quitzows, von Raubrittern und Slawenfürsten, von Birnbäumen, und verwunschenen Schlössern am Ufer märkischer Seen, sind Balsam für den zunehmend gehetzten Städter. Sie haben eine Entsprechung in der damals favorisierten Architektur, im Historismus. Fabriken, Kasernen, Telegrafenämter, die Zweckbauten der Gründerzeit, sie wurden gern im Gewand der guten alten Zeit errichtet, ohne dass ihr Inhalt irgendetwas mit diesem Pseudomittelalter zu tun hat.

"I am sick of it"

Fontane selbst hatte mit diesem rasanten Wandel die geringsten Probleme. Viele seiner späteren Romane bedienen sich Szenerien, die ihm aus den Wanderungen vertraut waren. Doch Fontane floh der Realität nicht, im Gegenteil. Das Personal seiner Romane stellt keineswegs nur der alte Adel, da gibt es Fabrikanten, starke Frauen und Zugereiste, da werden alte Gewissheiten und überkommene Konventionen von neuen Realitäten gefordert. Da werden Ehen geschieden und im Stechlin wird geklagt, vor der Eisenbahn liefen die Pferde besser.

Fontanes Verhältnis zu den Wanderungen, einmal begonnen und dann immer weiter fortgesetzt, weil vom Publikum so gewünscht, blieb ambivalent. Als ihm der Direktor des Märkischen Museums 1879 die Redaktion der Museumszeitschrift antrug, antwortete er: „Kuhdorf und Kuhschnappel immer wieder zu beschreiben“, dazu habe er wirklich keine Lust. Überhaupt habe er den patriotischen Krempel satt und fügte anglophil hinzu: „I am sick of it.“ Der märkische Wanderer, er war angeödet und machte trotzdem weiter, weil das Geschäftsmodell einfach zu gut war.

Die Wanderungen als Zeitmaschine

100 Jahre nach dem Tod des Autors erlebten die Wanderungen noch einmal eine Renaissance. Sie wurden nach dem Mauerfall neu entdeckt. Für Jahrzehnte war die Mark Brandenburg für West-Berliner und Westdeutsche schwer zugänglich gewesen, plötzlich konnte man sie neugierig bereisen und als Reiseführer hatte Fontane in den ersten Nachwendejahren wenig Konkurrenz. Mehr noch, man las ihn als Zeitmaschine: was steht noch, was nicht. Die Wanderungen funktionierten wie eine Flaschenpost aus einer Zeit, die eben doch eine gute alte war, angeblich frei von den Beschwernissen heute.

Die Zumutungen, mit denen Fontanes Zeitgenossen sich plagten, sind hingegen vergessen. Und natürlich haben die Herausforderungen für die Menschen heute noch einmal zugenommen, hat sich das Leben rasant beschleunigt. Die Reaktionen darauf unterscheiden sich aber nicht besonders von denen der Altvorderen.

Selbst der Historismus ist nicht wirklich aus der Mode. Immerhin beziehen sogar Berliner Startups gerne Büros in alten Backsteinetagen, wo einst, anders als heute greifbare Produkte hergestellt wurden. Und ist es nicht so, dass in diesem Jahr ein Schloss fertiggestellt wird, dessen Inhalt gar nichts mit der Hülle zu tun hat? Interessanterweise schien nur dieser Rückgriff auf vergangene Zeiten geeignet, dem Berlin des 21. Jahrhunderts eine Mitte zu geben, die von der Mehrheit akzeptiert wird.

Andreas Austilat
Tagesspiegel
20.1.2019
https://www.tagesspiegel.de/kultur/200-jahre-theodor-fontane-die-geburtsstunde-des-stresses/23886192-2.html